10 Jahrzehnte, 10 Fragen an ...

Dave Großmann

Dave Großmann, geboren 1989 in Jena, lebt und arbeitet in Berlin. Mehr Information auf der Webseite des Künstlers.

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In einem Satz: Was ist für mich Konkrete Kunst?
Konkrete Kunst ist die erste gemeinschaftlich organisierte und streng durchdachte Bemühung, sich der Darstellung zu entsagen.

Verstehe ich mich selbst als Vertreter*in der Konkreten Kunst?
Ich hadere schon lange mit einer Antwort auf diese Frage. Streng genommen – nach der ursprünglichen Vorstellung von Konkreter Kunst – bin ich kein Vertreter dieser Strömung. Einzelne Werke und Serien jedoch folgen dem Ideal der „Idee Konkret“ sehr genau.

Wer ist mein(e) Lieblingskünstler*in im Bereich der Konkreten Kunst? Welche der Konkreten Kunst zuzurechnende Position hat mich am stärksten geprägt / beeindruckt? Welche Pionier*innen der Konkreten Kunst empfinde ich als Vorbild?
An dieser Stelle möchte ich gerne eine zeitgenössische, lebende Künstlerin nennen: Esther Stocker. Ich habe mich ausgiebig mit ihrer Arbeit beschäftigt und beneide sie sowohl um ihre radikale Konsequenz, als auch den scheinbar unerschöpflichen Facettenreichtum ihrer Vision, die sie allein mit Schwarz und Weiß zum Ausdruck bringt.
Unter den Pionier*innen sticht für mich ganz klar Verena Loewensberg mit ihren Arbeiten heraus. Ich denke, sie war eine der ersten Konkreten Künstler*innen, die sich konsequent mit dem Thema der Faltung bzw. Überlagerung beschäftigte. Ihre scheinbar räumlichen Konstrukte sind zeitlos und für mich wichtige Inspirationsquellen gewesen.
Konzeptuell jedoch wurde ich von Positionen wie Vera Molnar oder François Morellet am meisten geprägt. Nach meinem Verständnis führten sie den Zufall als Prinzip innerhalb der Konkreten Kunst ein, ohne dabei ins Irrationale abzudriften. Mit diesem Schritt erweiterten sie das Spielfeld um Längen und schufen eine Grundlage für die Weiterentwicklung der Idee Konkret. Für mich persönlich waren sie neben Duchamp die ersten, die künstlerisch beweisen konnten, dass auch dem Zufall eine eigene Logik zugrunde liegt.

Was war mein erster Kontakt mit Konkreter Kunst?
Mein erster wortwörtlicher Kontakt mit Konkreter Kunst war im Alter von etwa vier Jahren in der Plattenbausiedlung Jena-Lobeda, in der ich aufgewachsen bin. Als Kinder spielten wir Fußball gegen die Formsteinwände von Karl-Heinz Adler. Seine Formen beeinflussten das architektonische Bild dieser Platte in den 1980er- und 90er-Jahren enorm, bevor alles renoviert und abgerissen wurde. Gute 25 Jahre später bin ich im Zuge meiner Recherchen wieder über seine beeindruckenden Arbeiten gestolpert. Ich hatte einen unglaublichen Aha-Effekt: Nach so langer Zeit hatte ich den Schöpfer dieser längst vergessenen Werke entdeckt! Kurz vor seinem Tod konnte ich mit ihm in Kontakt treten – der Kreis war für mich damit geschlossen.

Haben die Anfänge der Konkreten Kunst einen direkten Einfluss auf meine eigene künstlerische Arbeit?
Die dogmatische Strenge hat meinem Denkprozess einen schockhaften Impuls gegeben, der mit der Zeit aber wieder nachgelassen hat.

Welche Prinzipien der Konkreten Kunst prägen meinen künstlerischen Ansatz am stärksten?
Die Faltung bzw. Schichtung oder Verzahnung liegen für mich sehr nah beieinander: alle drei Prinzipien konstruieren eine Form der Räumlichkeit. Auch für mich ist Räumlichkeit innerhalb der Fläche ohne Perspektive ein weiterhin spannendes Feld.

Farbe, Form oder Linie? Welches grundlegende künstlerische Ausdrucksmittel der Konkreten Kunst ist mir am wichtigsten?
Ganz klar die Form. Farbe hat in meiner Arbeit höchstens eine unterstützende Funktion. Die Linie spielt in meinen Arbeiten keine wesentliche Rolle.

Die Manifeste der Pionier*innen der Konkreten Kunst sind für mich

  1. Längst überholt x
  2. Auch heute unverändert gültig
  3. Viel zu dogmatisch
  4. Von keinerlei Relevanz
  5. In ihrer Zeit bahnbrechend x
  6. Immer eine Inspirationsquelle
  7. Nicht radikal genug  
  8. Andere Einschätzungen:
     

Zum 100. Geburtstag: Wo sehe ich die Konkrete Kunst in 100 Jahren?

  1. Die tonangebende Richtung innerhalb der bildenden Kunst
  2. Nicht mehr als eigene, klar abgegrenzte Kunstrichtung zu erkennen
  3. Unverändert von großer Bedeutung
  4. In heute noch nicht vorhersehbaren Ausprägungen und Medien
  5. Andere Einschätzungen: x
    Als wohl intelligenteste aller Kunstrichtungen wird sie paradoxerweise im Zeitalter von künstlicher Hyperintelligenz vermutlich keine Rolle mehr spielen. Ich befürchte, die Kunst in 100 Jahren wird überwiegend emotional und kurzweilig unterhaltsam.
     

Und? Braucht es den Begriff Konkrete Kunst (überhaupt) noch?
Ich stand dem Begriff der Konkreten Kunst schon immer zwiegespalten gegenüber. Dafür gibt es mehrere Gründe. Problematisch finde ich ihn auf semantischer Ebene, denn er führt selbst unter informierten Kunstinteressierten in die Irre. Die Grenze zwischen abstrakt und konkret festzulegen, ist für viele zunächst eine Denkleistung. Außerdem funktioniert er im Englischen mit der Concrete Art noch viel schlechter, da es Verwechslungsgefahr zu Betonkunst gibt. Gerade für eine Kunstströmung, die behauptet universell zu sein, sind solche sprachlichen Stolpersteine fehl am Platz. Ich persönlich fand den Begriff der Konstruktiven Kunst schon immer deutlich umfassender und verständlicher. Wenn zum Beispiel die Illusion per Definition des Begriffs „konkret“ ausgeschlossen ist, sind die wesentlichen Prinzipien Konkreter Kunst – nämlich die Faltung, Schichtung oder Verzahnung – genau genommen auch nicht mehr konkret. Denn auch sie spielen mit der Illusion von Tiefe und verschiedenen Ebenen. Zudem gibt es unzählige gelungene Beispiele Konstruktiver Kunst, die sehr wohl einen Bezug zu den Dingen der realen Welt herstellen oder Assoziationen mit diesen erlauben und provozieren. An diesem Punkt war mir die Festlegung, was genau konkret sei, immer zu dogmatisch. Es kam wie es kommen musste: Das durch Manifeste zu eng abgesteckte Spielfeld der Konkreten Kunst, forderte geradezu auf dieses zu durchbrechen. Insofern braucht es den Begriff meiner Meinung nach nur noch für die kunstgeschichtliche Einordnung.